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Gabriel lernt singen © Annette Paul
Entsetzt schlossen die Engelchen die Augen. Ein paar von ihnen hielten sich sogar die Ohren zu. Musste dieser Bengel sie so quälen? Die Töne klangen schief und schrill. Eine Marter für jedes empfindliche Ohr.
Früher hatte sich die Familie abends versammelt und gemeinsam Weihnachtslieder gesungen. Es klang harmonisch, häufig wurde sogar mehrstimmig gesungen. Doch als die Großeltern älter wurden und die Kinder größer, ließ dieser Brauch nach. Gesungen wurde nur noch am Heiligabend. Irgendwann waren die Kinder groß und zogen daheim aus.
Großmutter Gerda packte die kleinen Engelchen eines Nikolausabends vorsichtig in Seidenpapier und dann in einen kleinen Karton. Das gesamte Orchester packte sie ein. Anschließend reichte sie es ihrer inzwischen erwachsenen Tochter. „Nimm sie mit, damit du es auch ein bisschen weihnachtlich hast.“
So zogen die Engelchen in eine kleine Studentenbude. Es war eng, sie mussten sich zur Weihnachtszeit auf dem Fernseher drängeln, um alle Platz zu finden. Aber sie waren zusammen. Es war zwar nicht mehr so gemütlich und gesungen wurde auch nicht mehr. Nur ab und zu summte Susanne noch die alten Lieder.
Später tauchte ein junger Mann auf. Statt zu singen, hielt Susanne in der Weihnachtszeit verliebt seine Hände. Und irgendwann zogen die Beiden gemeinsam in eine große Wohnung. Jetzt hatte das Orchester in der Weihnachtszeit genug Platz in einer Schrankwand. Es trafen sogar jedes Jahr ein paar neue Engelchen ein.
Nur gesungen wurde nicht mehr. Susanne legte im Advent ein paar Weihnachts-CDs auf. Allerdings nur, wenn Michael nicht da war. Er fand die alten Lieder albern.
Inzwischen konnte ihr Sohn Gabriel laufen und malen und stieß die Engelchen nicht mehr mit seinen ungeschickten Patschhändchen um. Sondern er wusste, dass er nur schauen und nicht anfassen durfte.
Leider wurde noch immer nicht gesungen. Gabriel wusste gar nicht, was das war. Niemand sang mit ihm. Weder daheim, noch im Kindergarten. Heute hatte er auf dem Weihnachtsmarkt Lieder gehört, wie er abends seinem Papa erzählte. Nur das Nachsingen war eine Strafe für alle Engelchen gewesen.
„Wir müssen etwas unternehmen. Wir werden krank, wenn das Kind weiterhin so kreischt“, sagte das Dirigentenengelchen.
„Wir machen so laut Musik, dass wir ihn übertönen“, schlug das Posaunenengelchen vor und schlug auf sein Instrument.
Nina, das Harfenengelchen schüttelte den Kopf. „Das hilft nichts. Die Menschen hören uns nicht.“
„Dann müssen wir dem Jungen singen beibringen.“ Das Akordeonengelchen krempelte energisch seine Flatterärmelchen hoch.
„Und wie?“ Das Dirigentenengelchen schaute es neugierig an.
„Wir spielen, sobald Gabriel im Zimmer ist. Kinder können uns doch hören. Wie häufig haben wir uns früher mit Susanne unterhalten, als sie noch klein war.“
Die andern nickten. Ja, das war schon lange her.
„Bisher hat er aber noch nie mit uns gesprochen“, wandte das Posaunenengelchen ein.
„Weil er es nicht weiß, wie es geht. Genauso, wie er nicht singen kann. Wir müssen einen Anfang machen. Lasst uns immer spielen. Selbst wenn er es nicht so gut wie Susanne hören kann, etwas wird er sicher wahrnehmen.“
Und so spielte das Orchester jedes Mal, wenn Gabriel im Wohnzimmer war, die alten Lieder. Die gesamte Adventszeit hindurch. An den Weihnachtstagen spielten sie von morgens bis abends. Erschöpft schliefen sie tief und fest in der Nacht.
Tatsächlich, am Neujahrstag legte Susanne wieder einmal eine Weihnachts-CD auf. Diesmal sang Gabriel mit und es klang nicht mehr ganz so schrill und schief wie zu Beginn der Adventszeit.
„Schatz, du singst ja“, stellte Susanne fest. Sie nahm Gabriel auf den Arm, stellte sich vor das Orchester und sang mit ihm gemeinsam „Stille Nacht, heilige Nacht“. Sie konnte noch immer wunderschön singen und auch bei Gabriel klang es inzwischen nach einem Lied.
Zufrieden zwinkerte das Akordeonengelchen seinen Kameraden zu. Wenn sie in den nächsten Jahren weiterübten, würde aus Gabriel bestimmt ein brauchbarer Sänger werden.
Weitere Texte auf dem Blog: Probeschmökern bei Annette Paul.