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Sebastian Jüngel: Der Hirte und die Könige
Der Hirte und die Könige
© Sebastian Jüngel
Seit Tagen war schon viel Schnee gefallen und hatte die Stadt in dicke, weiche Watte gepackt. Gedämpft klangen die Geräusche, dumpf war das Empfinden der Menschen, sonst hätten sie dort in der Ecke, wo der Schnee weniger gut hinwehte, ihren Bruder sitzen sehen. Er fror erbärmlich, denn sein Gewand war für diesen Winter nicht gemacht. Gestützt auf einen dicken Ast, mit dem er in Müllkörben und Containern nach Übriggebliebenem stocherte, war er nur etwas von seinem Hund gewärmt, dessen Flöhe sich ob der Kälte tief in seinem Fell versteckten und dort auf Änderung der Verhältnisse warteten. So saß er und beobachtete die Menschen, selbst ein einfacher Mensch.
Als er in seiner Trostlosigkeit seinen Blick von den Menschen weg nach oben wandte, hob sich vom Himmel der leuchtende Schriftzug ‹Labor für feintechnische Produktion› ab. Was aber bedeutete dieses Zeichen? «Ich will fragen, was es damit auf sich hat», sagte sich der Menschenbruder, stand auf und trat mit seinem Hund in das Foyer des großen Unternehmens mit der Leuchtschrift.
Wohlig warm war ihm das Foyer. Lange schon hatte er die Hülle der Wärme, ihr zartes Streicheln der Haut nicht mehr gespürt. Und auch die Flöhe im Fell seines Hundes fühlten sich sichtbar wohl und turnten mit Luftsprüngen auf dem Fell herum.
Doch es dauerte nicht lange, da stand vor dem Menschenbruder ein kräftiger Wachmann: «Das ist hier keine Wärmehalle!» «Wiewohl», gab der Menschenbruder zur Antwort, «wiewohl ich die Wärme Ihres Foyers sehr zu schätzen weiß, so bin ich doch nicht ihretwegen zu Ihnen gekommen.» «Sie werden hier auch kein Almosen beziehen können!» «Auch danach begehrt es mich nicht...» Weiter kam er nicht. «Mann, sehen Sie nicht, dass Sie hier am falschen Platz sind. Wir sind hier ein Laboratorium, da herrschen Sauberkeit und Reinheit. Machen Sie, dass Sie fortkommen!» «Ich will Ihnen hier gar nicht zur Last fallen», erwiderte der Menschenbruder. «Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Ihnen gern draußen vor der Tür meine Frage stellen.» Der Wachmann brummte. Doch war ihm das Angebot annehmbar. War der stinkende Schmutzkerl mit seinem verflohten Hund erst einmal draußen, würden die Vorschriften des Laboratoriums eingehalten sein. Und mehr hatte er nicht durchzusetzen.
«Was gibt es denn?», fragte der Wachmann draußen, nun freundlicher. «Ich sah vor dem Himmel die Leuchtschrift des ‹Labors für feintechnische Produktion› und wollte fragen, wie ich das zu verstehen habe.» «Moment», bat der Wachmann, «ich werde die Wissenschaftler fragen. Wenn Sie hier bitte warten würden.» Und in diesem Moment kam dem Wachmann eine Idee, wie er die Vorschriften des Labors mit Menschlichkeit verbinden könnte und bat den Menschenbruder ins Foyer zurück. «Nehmen Sie aber bitte eine Decke über sich und den Hund, die Sterilitätsvorschriften, Sie verstehen...» Mit diesen Worten zeigte der Wachmann auf die Feuerlöschdecke im roten Kasten. «Aber es brennt doch nicht.» «Nehmen Sie nur», ermutigte ihn der Wachmann. Und so kauerte sich der Menschenbruder, sich und seinen Hund in einer Feuerlöschdecke eingeschlagen, auf den Boden des Foyers.
Der Wachmann suchte die im Laboratorium verbliebenen Wissenschaftler auf. Sie waren dem Wachmann gegenüber ungemut, da er doch dafür sorgen sollte, dass sie niemand in ihren empfindlichen Untersuchungen und in ihren komplexen wissenschaftlichen Erwägungen stören würde. Einmal unterbrochen, fanden sie indes die von ihm vermittelte Frage herausfordernd genug und geeignet, die Tauglichkeit ihrer Modelle unter Beweis zu stellen.
Sie bestimmten die Eckpunkte der Anfrage, die sie mit einem ihrer Modelle deuten wollten, von einem anderen aber als Zielpunkt einer Hochrechnung nahmen. Auf unabhängigen Wegen ermittelt, würde eine etwaige Übereinstimmung der Ergebnisse eine hohe Sicherheit für ihre Richtigkeit garantieren. Doch am Ende waren die Wissenschaftler ratlos. Das eine Modell hatte schlicht festgestellt: «Heut’ ist Weihnachten», das andere: «Stolz wird Demut, Schutz Interesse, Beobachtung Tätigkeit.»
Den Wachmann kümmerte das Ergebnis wenig; er hatte seine Aufgabe erfüllt und ging zum Menschenbruder, der währenddessen in der wohligen Wärme ein wenig gedöst hatte. «Die Wissenschaftler haben ein Ergebnis ermittelt, das sie allerdings selbst nicht verstehen», berichtete der Wachmann dem Menschenbruder. «Und?», fragte er nach. «Nun: ‹Heut’ ist Weihnachten› und ‹Stolz wird Demut, Schutz Interesse, Beobachtung Tätigkeit›.» «Das ist, was geschehen ist», stellte der Menschenbruder fest. «Ich will also nicht länger darauf warten, dass etwas geschieht.» Der Menschenbruder erhob sich, dankte dem Wachmann für seine Hilfe und ging entschlossen hinaus in die kalte Nacht, gefolgt von seinem Hund, dessen Flöhe sich wieder tief in das Fell zurückzogen.
Zurück blieb der Wachmann, dem Menschenbruder und seinem Hund nachsehend. «Was hatte er gesagt? Er wolle nicht länger warten, dass etwas geschieht. Dann stand er auf und ging. Was soll nur das wieder bedeuten?», sann der Wachmann lange nach. «Verflixt», rief der Wachmann. Ein Floh hatte ihn gebissen.
Sebastian Jüngel schreibt unter anderem Märchen für Kinder und Erwachsene. 2006 erschien im Ogham-Verlag seine Erzählung <LINK www.vamg.ch/verzeichnis/customer/search.php leere Spiegel›</LINK> <LINK www.themen-der-zeit.de/content/Der_leere_Spiegel.359.0.html>(Pressemitteilung)</LINK>. Kontakt: sebastian.juengel(at)dasgoetheanum.ch