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Sebastian Jüngel : Weihnachtsengelkinder
Weihnachtsengelkinder
© Sebastian Jüngel
Wenn es auf Erden dunkel wird und die Menschen den Schutz ihrer Häuser aufsuchen, so ist es oben im Himmel doch nicht gleichermaßen. Ein helles, mildes Licht breitet sich hier aus, ein Licht, das eine feine Musik in sich trägt. Und darauf freuen sich die Engelkinder immer ganz besonders, spielen, jubeln, tanzen, singen, dass es auch für all die anderen Himmelsbewohner eine einzige Wonne ist.
«Engelkinder, seid nun stille!», mahnte sie der strenge Posaunenengel des Erzengels Gabriel.
«Was ist denn?! Warum störst du unser Spiel?», riefen die Engelkinder aufgeschreckt durcheinander.
«Habt ihr etwa vergessen, was heute zu tun ist?» fragte sie der Posaunenengel ernst.
«Es ist gerade so schön, wir haben gesungen, gespielt, wir haben das Werk Gottes gefeiert, und dann kommst du...»
«Höret», unterbrach sie der Posaunenengel. «Höret, was ist Gottes Wille: Auf die Erde nieder steiget bald, Sankt Niklaus steht dort bereit. Bringt ihm mit das Christuskind, dass der Mensch es finden könnt’.»
Was blieb den Engelkindern übrig? Wenn schon der strenge Posaunenengel zu ihnen geschickt wird, ist es wirklich höchste Eisenbahn, die eigenen Aufgaben zu erfüllen. Und schließlich waren sie ja die Weihnachtsengelkinder. Und so unterbrachen sie eben ihr Spielen, Jubeln, Feiern und betteten das Christkind in ihre noch zarten, federweichen Flügel und senkten sich langsam, damit das Christkind nicht erschüttert werde, auf die Erde nieder.
Hier, auf der Erde, wo es anders als im Himmel ganz dunkel war und kalt und hart, da saßen in der Stube die Menschenkinder und bastelten Sterne, knoteten Fäden an pralle, rote Äpfel und was sie sonst in der Schule gelernt hatten, um das Weihnachtszimmer zu schmücken. Die Menschenkinder waren voll Erwartung, was ihnen wohl die Weihnacht diesmal bringen würde. Und als sie ihre Basteleien fertig hatten, sie den Baum geschmückt und all die Scheren, Kleber, Stifte, Fäden, Nadeln beiseite geräumt hatten, da entdeckten sie, dass auf dem Weihnachtsbaum der Stern fehlte. Was waren sie da niedergeschlagen! Hatten sie doch an alles gedacht, hatten sich gut vorbereitet, hatten überlegt, was sie brauchten, hatten alles dafür Nötige besorgt – und nun fehlte ausgerechnet der Stern!
Noch während sie traurig zur Spitze des Weihnachtsbaums blickten, senkten sich gerade die Engelkinder mit dem Christkind zur Erde nieder. Und da, wo die traurigen Blicke der Menschenkinder mit dem Weg der kleinen Himmelsboten zusammentrafen, da bildete sich ein wunderschön strahlender, mild leuchtender, Hoffnung spendender Stern, wie ihn die Menschenkinder noch nie gesehen hatten.
«Wir vertrauen euch das Christkind an», sprachen die Weihnachtsengelkinder zu den Menschenkindern. «Dass ihr auch lieb zu ihm seid», brummte Sankt Niklaus und stieß mit seinem Stab auf die Erde, dass es im Zimmer hallte und all die Sächelchen in den Schränken schuckelten und klapperten. «Ich werde jedes Jahr wieder zu euch kommen und sehen, wie ihr euer Versprechen einhaltet.»
«Aber, lieber Sankt Niklaus, warum so strenge?», fragten die Menschenkinder verwundert. «Wir haben dich doch noch nie, in keinem Jahr, enttäuscht.»
«Das stimmt allerdings», murmelte dieser anerkennend in seinen Bart und beugte sich zart dem Christkind zu.
Da setzten die Menschenkinder an zu singen: «Lieb Kindlein zart, die Erd’ ist hart, doch weich das Herz, löst auf den Schmerz, dass wir dich preisen und willkommen heißen – und so mit jedem Menschen.» Und da freuten sich die Engelkinder über den Gesang und es war ihnen, als wären sie im Himmel. Und so ergriffen sie die Hände der Menschenkinder und tanzten mit ihnen am Weihnachtsbaum mit dem edlen Stern.
Als aber die Weihenacht vorüber war, lagen die Menschenkinder schon in ihren Betten. Um Abschied zu nehmen, hauchten die Weihnachtsengelkinder ihnen einen zarten Kuss auf die Wange. «Nun aber los!», brummte Sankt Niklaus, der schließlich Sorge für die Engelkinder auf der Erde zu tragen hatte. «Wart‘ noch», baten sie. «Was ist denn noch?», knurrte Sankt Niklaus, ein bisschen unruhig, da er nach dem Dienst in den Stuben der Menschen noch seine Aufgaben draußen in der Welt für jene Menschen erfüllen wollte, die kein Obdach haben, die den Schutz seines Mantels brauchten.
«Warum», fragten ihn die Weihnachtsengelkinder, «warum müssen wir das Christkind eigentlich jedes Jahr wieder zu den Menschen bringen?» «Ja, sagt einmal», lächelte nun unverhofft der Alte, «habt ihr es denn nicht bemerkt, wie sich die Menschenkinder darauf freuen?» Und würden die Menschen all ihre Kinder so lieb jedes Jahr – als wären sie neu geboren – empfangen, wie wäre das ein großes Fest auf Erden!
Sebastian Jüngel schreibt unter anderem Märchen für Kinder und Erwachsene. 2006 erschien im Ogham-Verlag seine Erzählung <LINK www.vamg.ch/verzeichnis/customer/search.php?PHPSESSID=c9763ba3884a8a268e1ca05c9a78440d&substring=J%Fcngel>‹Der leere Spiegel›</LINK> (<LINK themen-der-zeit.de/content/Der_leere_Spiegel.359.0.html>Pressemitteilung</LINK>). Kontakt: sebastian.juengel<at>dasgoetheanum.ch.