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Weihnachtsgedichte im Weihnachtsbüro - Der schönste Tannenbaum, den ich gesehn (Gottfried Keller)
Der schönste Tannenbaum, den ich je gesehn
Das war ein Freiheitsbaum, von sechzig Ellen,
Am Schützenfest, im Wipfel Purpurwehn,
Aus seinem Stamme flossen klare Wellen.Vier Röhren gossen den lebendigen Quell
In die Granit gehaune runde Schale;
Die braunen Schützen drängten sich zur Stell'
Und schwenkten ihre silbernen Pokale.Unübersehbar schwoll die Menschenflut,
Von allen Enden schallten Männerchöre;
Vom Himmelszelt floss Julisonnenglut,
Erglühend ob meins Vaterlandes Ehre.Dicht in Gedränge, dort an des Beckens Rand,
Sang laut ich mit, ein fünfzehnjähriger Junge;
Mir gegenüber an dem Brunnen stand
Ein zierlich Mädchen von romanischer Zunge.Sie kam aus der Grisonen letztem Tal,
Trug Alpenrosen in den schwarzen Flechten
Und füllte ihres Vaters Siegpokal,
Drin schien ihr Aug' gleich Sommersternennächten.Sie ließ in kindlich unbefangener Ruh
Vom hellen Quell den Becher überfließen,
Sah drin dem Widerspiel der Sonne zu,
Bis ihr gefiel, den vollen auszugießen.Dann mich gewahrend, warf sie wohlgemut
Aus ihrem Haar ein Röslein in den Brunnen,
Erregt' im Wasser eine Wellenflut,
Bis ich erfreut den Blumengruß gewonnen.Ich fühlte da die junge Freiheitslust,
Des Vaterlandes Lieb' im Herzen keimen;
Es wogt' und rauscht' in meiner Knabenbrust
Wie Frühlingssturm in hohen Tannenbäumen.